Vorgehen im Teilprojekt Leipzig

Projektbericht PiCarDi-U

Im Rahmen des Projekts PiCarDi-U wurden in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen qualitative leitfadengestützte Interviews mit Bewohner*innen aus Wohnangeboten der Eingliederungshilfe und Angehörigen von Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung geführt. In den Wohnheimen fanden 22 Einzelinterviews und 7 Gruppendiskussionen statt, 7 Angehörige (5 Elternteile, ein Bruder und eine Schwägerin) nahmen an Interviews teil. Es wurde gefragt, welche Erfahrungen die Interviewpartner*innen mit Blick auf schwere Erkrankung, Sterben, Tod und Trauer von Menschen mit zugeschriebener geistiger Behinderung haben, welche Gedanken sie sich hierzu machen und welche Wünsche für die letzte Lebensphase geäußert werden.

Das Forschungsteam von PiCarDi-U bestand aus Mitarbeitenden der Universität und einer Fokusgruppe aus 6 Personen aus verschiedenen Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe. In allen Projektphasen trugen die Diskussionen und Tipps der Fokusgruppe wesentlich zum Vorgehen bei.

1.       Über welche Erfahrungen mit den Themen schwere Erkrankung, Sterben, Tod und Trauer verfügen Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung?

Sowohl die gemeinsame Arbeit mit der Fokusgruppe als auch die Interviews mit Bewohner*innen haben gezeigt, dass alle befragten Personen Erfahrungen mit diesen Themen gemacht haben. Neben Erfahrungen in der Wohngruppe und Einrichtung sind auch solche innerhalb des familiären Umfelds oft von großer und langanhaltender Bedeutung.

Der Großteil der befragten Bewohner*innen wollte im Rahmen der Interviews über eigene Erfahrungen sprechen. Viele erzählten, dass sie eingebunden sein wollen, wenn jemand, der ihnen wichtig ist und den sie kennen, schwer erkrankt oder stirbt. Teilweise wird beschrieben, dass es belastend sein kann, wenn es nicht möglich ist Abschied zu nehmen. Die freiwillige Teilhabe in der Begleitung bei schwerer Krankheit oder an einer Beerdigung hingegen wird überwiegend positiv beschrieben. Das Abschiednehmen am Krankenbett oder bei der Beerdigung wird einigen Bewohner*innen als wichtiger Moment des Begreifens genannt und verschiedenste Rituale des Abschiedsnehmens beschrieben.

Viele Interviewpartner*innen beschreiben  individuelle Vorstellungen vom Sterben, Tod und dem was nach dem Tod sein könnte.

2.       Welche Wünsche formulieren Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung mit Blick auf die eigene letzte Lebensphase?

Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung unterscheiden sich in ihren Wünschen für die letzte Lebensphase nicht von anderen: sie möchten nicht leiden, insbesondere keine Schmerzen haben und nicht allein sein. Darüber hinaus nennen viele Interviewpartner*innen individuelle Wünsche, die sich aus ihrer jeweiligen Lebensgeschichte ergeben.

Viele Bewohner*innen äußern den Wunsch bei schwerer Krankheit bzw. in der letzten Lebensphase an einem vertrauten Ort, das ist oft die  Einrichtung bzw. Wohngruppe, bleiben zu können. Viele Bewohner*innen bedenken jedoch auch die Versorgungslage. Wenn sie in der Wohngruppe oder Einrichtung nicht gut versorgt werden können, ziehen sie auch andere Orte wie ein Altenheim, Hospiz oder Krankenhaus als Aufenthaltsort in der letzten Lebensphase in Betracht.

Die Teilnehmer*innen der Fokusgruppe betonen, dass Bewohner*innen über eine Erkrankung informiert werden sollen, sofern sie dies wünschen. Dies muss in einer Sprache geschehen, die sie verstehen können. Sie wünschen sich Mitarbeitende, die eine gute zusätzliche Ausbildung für die Begleitung der Bewohner*innen am Lebensende und mehr Zeit haben.

3.       Was benötigen Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung für Selbstbestimmung in der letzten Lebensphase?

Einige Bewohner*innen berichten von Situationen der Fremdbestimmung, von Institutionalisierungserfahrungen und zum Teil massiven Grenzüberschreitungen im Laufe ihrer Biographie. Im feststellbaren sozial- und institutionserwünschten Antwortverhalten einiger Bewohner*innen zeigt sich, dass sie aufgrund dieser lebenslangen Erfahrung von Fremdbestimmung spezifische Umgangsformen mit dieser Ausgangssituation (z.B. das Zurückhalten der eigenen Meinung, Schwierigkeit eigene Wünsche zu erkennen, diese ernst zu nehmen und einzufordern, Ja-Sage-Tendenz aber auch Widerständigkeit) entwickelt haben.

Damit sie eigene Wünsche und Bedarfe bezüglich der Themen Sterben, Tod und Trauer, im Alter und in der letzten Lebensphase selbstbestimmt ausdrücken sowie selbstbestimmte Entscheidungen treffen können, ist es notwendig Institutionsstrukturen und Umgangsformen zu verändern und vorhandene Fähigkeiten der Bewohner*innen zu stärken.

Viele Angehörige sehen sich als Gesprächspartner*innen zu den Vorstellungen und Wünschen der erwachsenen Kinder als direkt Betroffene mitunter unsicher und vermeiden solche Gespräche. Sie wünschen sich jedoch durchaus mehr Aufmerksamkeit in den Einrichtungen für diese Thematik und weitere Ansprechpartner*innen für ihre erwachsenen Kinder, die diesen eine Auseinandersetzung mit den Themen ermöglichen.

4.      Welche Erfahrungen und Wünsche äußern Angehörige mit Blick auf die Begleitung von Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung in der letzten Lebensphase?

Angehörige berichten über lebenslange Verantwortung für ihre erwachsenen Kinder oder Geschwister mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung. Dies zeigt sich auch in dem dringenden Wunsch, diese noch bis deren Tod begleiten zu können und eine gute Versorgung nicht anderen übertragen zu müssen. Viele Angehörige berichten von der fehlenden Sicherheit einer Versorgung und Begleitung innerhalb der Wohngruppe bis zuletzt. Sie äußern den Wunsch, dass Träger ihre Konzepte und nachfolgend die Organisationsstrukturen entsprechend ändern. Palliative Kompetenzen bei den Mitarbeitende sowie interne und externe Vernetzung seien vonnöten. Der häufige Personalwechsel wird als Hindernis zum Aufbau von starken, auch am Lebensende tragenden, Beziehungen erlebt.

Die medizinische Versorgung in Krankenhäusern wird von Angehörigen überwiegend als sehr problematisch erlebt, da die Mitarbeitenden nicht auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit zugeschriebener geistiger und schwerer Behinderung eingestellt sind. Einige Angehörige berichten, dass sie ihr erwachsenes Kind deshalb bei notwendigen Krankenhausaufenthalten rund um die Uhr begleitet haben. Die erlebte unklare Finanzierung benötigter Leistungen führt zu weiteren großen Belastungen bei Angehörigen.

Angehörige wünschen sich, als gleichberechtigte Netzwerkpartner*innen in die Begleitung eingebunden zu werden. Oft können sie ihre gute Kenntnis der Person, bspw. in den Kommunikationsweisen oder der Krankengeschichte, einbringen und die Versorgungsqualität somit erhöhen.

Nicht zuletzt wünschen sich Angehörige auch, im Falle schwerer Erkrankung oder des nahenden Todes ihrer erwachsenen Kinder selbst von Mitarbeitenden unterstützt zu werden. Sie benötigen für sich selbst das Gefühl, in dieser herausfordernden Zeit willkommen zu sein und Verständnis und Mitgefühl zu erfahren.

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