Warum ist es wichtig, sich mit dem Thema Sterben zu beschäftigen?

Die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung in allen Lebensphasen, ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und ein gleicher Zugang zu allen Angeboten ist ein wichtiges Ziel für Politik, Gesellschaft und die Praxis der Unterstützung und Versorgung. In vielen Bereichen sind diese Ziele aber bei weitem noch nicht erreicht. So besteht bisher kaum Wissen über die tatsächliche Versorgung und Begleitung von Menschen mit Behinderung am Lebensende. Daher kann die Palliativversorgung in Deutschland auch auf keine bewährten Konzepte für die Unterstützung von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung zurückgreifen.


Die Vernetzung der Einrichtungen und Dienste an der Schnittstelle zwischen Behindertenhilfe und Palliativversorgung stellt dabei eine zentrale Herausforderung dar. Die Hilfesysteme in Deutschland sind aufgrund der sozialrechtlichen Grundlagen, die je für sich entstanden sind und sich weiterentwickeln, stark versäult. Eine stärkere Zusammenarbeit könnte die Versorgung insgesamt verbessern und parallele Aktivitäten vermeiden. Ein verbesserter fachlicher Austausch, gemeinsame Konzepte und abgestimmte Versorgungswege sind daher notwendig.


Anlass und Ausgangssituation


Die Begleitung am Lebensende ist in der Behindertenhilfe ein relativ neues Thema, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dafür gibt es mehrere Gründe:


Demografischer Wandel

Die Zahl der Menschen mit Behinderung im höheren Lebensalter hat in den letzten Jahren enorm zugenommen und wird weiter zunehmen. Die medizinische und psychosoziale Versorgung hat sich verbessert. In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich eine sich zunehmend an die der sogenannten Allgemeinbevölkerung angleichende Lebenserwartung ab. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.


Euthanasie-Verbrechen

Aufgrund der Euthanasie-Verbrechen des Nationalsozialismus wird nach der fehlenden Generation nun die Nachkriegsgeneration älter. Der Bedarf an Konzepten und Angeboten zur palliativen Versorgung und hospizlichen Begleitung des Personenkreises wird daher deutlich und relativ unvermittelt ansteigen, zumal die beteiligten Versorgungssysteme mit dem steigenden Bedarf kaum mitwachsen konnten und zum Teil rasch reagieren müssen.   


Sterben, Tod und Trauer als Lebensthema

Sterben, Tod und Trauer können als Lebensthemen verstanden werden. Die Aufgabe, sich der eigenen Endlichkeit bewusst zu werden und sich ihr zu stellen, betrifft jeden einzelnen Menschen. Hier hat niemand einen Wissensvorsprung. Niemand weiß, wie es ist zu sterben, und doch entwickelt jeder Mensch eine eigene Vorstellung vom Tod, die sich im Laufe des Lebens verändert. Verlust- und Trauererfahrungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Es ist wichtig, dass die damit einhergehende Trauer gelebt und reflektiert werden kann – unabhängig von einer möglichen Behinderung.


Rechtslage


Menschen mit Behinderungen an ihrem Lebensende gut zu begleiten ist ohne Frage eine wichtige Aufgabe. Die Thematik hält daher nach und nach Einzug in die deutsche Gesetzeslage:  


UN-Behindertenrechtskonvention (2008)

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, Teilhabe und Gleichberechtigung für alle Menschen sicherzustellen. Dazu gehören auch der Abbau von Barrieren in der gesundheitlichen Versorgung (Art. 25 UN-BRK) und die Sicherstellung von Teilhabechancen in allen Lebensphasen.
Der Grundsatz der Achtung des „Rechts auf Wahrung ihrer Identität“ (Art. 3 UN-BRK), ist dabei eine zentrale Aufgabe für die professionelle Unterstützung, die altersunabhängig und bis zum Lebensende besteht.


Hospiz- und Palliativgesetz (2015)

Das Hospiz- und Palliativgesetz betont den gleichberechtigten Zugang aller Menschen zu Leistungen der palliativmedizinischen Versorgung. Es nennt ausdrücklich auch Menschen, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe leben, als Zielgruppe.     
Im Bereich der palliativen Versorgung sind Menschen mit Behinderung bisher jedoch deutlich unterrepräsentiert. Es bestehen Unsicherheiten und es fehlt an Wissen über die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit lebenslanger Behinderungserfahrung, über Kommunikationsbarrieren und strukturelle Zugangs- und Schnittstellenprobleme.    
In der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, die 2007 vor dem Hintergrund einer internationalen Initiative auf dem zehnten Kongress der European Association for Palliative Care (EAPC) verfasst wurde, ist der folgende Anspruch formuliert: „Die besonderen Belange schwerstkranker und sterbender Menschen mit Behinderung sind bei ihrer Betreuung zu berücksichtigen. Ihr Recht auf gesellschaftliche Teilhabe bedeutet auch, dass die notwendigen palliativen Versorgungsangebote ohne jede Einschränkung barrierefrei in Anspruch genommen werden können“.
Zu den Leistungen der gesundheitlichen Versorgung am Lebensende gehören inzwischen auch Beratungsleistungen zur Versorgungsplanung am Lebensende gem. § 132g SGB V, die explizit auch für Menschen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe vorzuhalten sind. Für diese Leistungen bedarf es spezifischer Konzepte für die Schulung von Beratenden und die Durchführung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe.


Bundesteilhabegesetz

Leistungsansprüche der Eingliederungshilfe bestehen bedarfsbezogen unabhängig vom Lebensalter und bleiben bei Eintritt in das Rentenalter und bei zunehmender Pflegebedürftigkeit bestehen. Das (nahende) Lebensende ist gerade für Personengruppen wie Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung eine kritische Lebensphase: mühsam erworbene Teilhabechancen drohen oft aufgrund unzureichender Unterstützungsstrukturen verloren zu gehen. Daher ist die personzentrierte Unterstützung auch in dieser Lebensphase von großer Bedeutung, um gemäß den Zielen der Eingliederungshilfe eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die volle und wirksame Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern und alle Menschen in jeder Lebensphase zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensplanung zu befähigen.

 

Bei der palliativen Versorgung von Menschen mit Behinderung geht es um Bildung, soziale Teilhabe, Kommunikation und eine gute Vernetzung. Eine ausreichende Finanzierung dieser Angebote ist für eine gute Versorgungsqualität am Lebensende unabdingbar.
Für die komplexen Aufgaben zur Sicherstellung einer guten Versorgung von Menschen mit Behinderung am Lebensende hat das Projekt PiCarDi auf der Grundlage von Erhebungen in verschiedenen Hilfesystemen, aus verschiedenen Perspektiven und in verschiedenen Regionen Empfehlungen erarbeitet, die auf dieser Homepage zusammengeführt sind.

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